Methodisch, praktisch, gut - Wie Agrarökologie den Hunger an der Wurzel packt
Die Landwirtschaft in Nicaragua steht im doppelten Teufelskreis von Klimakrise und Armutsspirale – und doch gibt es Hoffnung. SWISSAID zeigt mit agrarökologischen Projekten, wie nachhaltige Anbaumethoden und lokale Saatgutbanken Kleinbauernfamilien helfen, ihre Erträge zu steigern und ihre Ernährungssicherheit zu verbessern. Das Projekt in Matiguas beweist: Agroökologie kann mehr als nur Erträge sichern – sie schafft Perspektiven, stärkt Gemeinschaften und sorgt dafür, dass Frauen und Jugendliche eine aktive Rolle spielen. So gelingt der Wandel von der Theorie zur Praxis, von der Abhängigkeit zur Eigenständigkeit.
Iota, Eta, Felix, Mitch: Ihre Namen klingen harmlos, doch sie bringen Verwüstung, Tod und Leid. Tropische Stürme gehören seit jeher zu den gefürchtetsten Plagen in Nicaragua. Doch früher kamen sie seltener und brachten nicht so gewaltige Wassermassen mit sich wie heute. Laut dem Global Climate Risk Index 2019 gehört Nicaragua inzwischen zu den zehn Ländern, die am stärksten vom Klimawandel bedroht sind.
Doppelter Teufelskreis
Die Hurrikane, die eine ansonsten vergessene Weltregion zumindest für kurze Zeit in unser Bewusstsein rücken, sind Ausdruck eines doppelten Teufelskreises. Zum einen treffen sie ein Land, dessen Rückgrat – die Landwirtschaft – seit der Jahrtausendwende massiv geschwächt wurde. Die konventionelle Landwirtschaft hat den massiven Einsatz von Pestiziden und die Ausbreitung von Monokulturen mit sich gebracht. Flächen werden übernutzt, Waldgebiete müssen weichen, Gewässer und Quellgebiete werden verschmutzt. Die Folgen sind ausgelaugte und erodierte Böden, mit denen die Naturgewalten leichtes Spiel haben.
Zum anderen hat die konventionelle Landwirtschaft nicht den erhofften Wohlstand gebracht. Im Gegenteil: Die Böden liefern immer weniger Ertrag, die Abhängigkeit von wenigen Produkten wie Mais und Bohnen wird immer größer. «Im Jahr 2007 stürzte die gesamte Landwirtschaft Nicaraguas in eine anhaltende Krise», berichtet Harald Calvo, Landeskoordinator des Saatgutnetzwerks «Red Semillas de Identidad». So habe die «Grüne Revolution» neben dem Einsatz von Pestiziden auch die Abhängigkeit von industriellem, gentechnisch verändertem Saatgut mit sich gebracht, wodurch viele traditionelle, angepasste und klimaresistente Sorten verdrängt wurden, berichtet Calvo.
In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung direkt von der Landwirtschaft lebt, wirken Ernte- und Ertragsausfälle wie Brandbeschleuniger für die ohnehin schon grassierende Abwanderung. Auf dem Land fehlt es zunehmend an jungen, gut ausgebildeten Menschen, die die Felder bestellen und die Lebensmittel vermarkten. Dadurch sinken die Erträge und Einkommen immer weiter. Die Folgen sind verheerend. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind durchschnittlich 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf dem Land chronisch mangel- oder unterernährt.
Mit Agrarökologie aus der Krise
In mehreren Projektregionen Nicaraguas ist es SWISSAID gelungen, den Teufelskreis von Klimakrise und Armutsspirale zu durchbrechen. Das Erfolgsrezept trägt den etwas sperrigen Namen «Agrarökologie». Dahinter verbirgt sich ein von der Welternährungsorganisation FAO empfohlenes Modell für ein nachhaltiges und gerechtes Ernährungssystem. Es basiert auf ökologischen Anbaumethoden, natürlichen Kreisläufen und Biodiversität. Die Prinzipien beziehen wissenschaftliche, ökonomische, soziale und politische Faktoren mit ein.
Für die teilnehmenden Kleinbauernfamilien bedeutet das einen radikalen Paradigmenwechsel: Statt schneller Erträge durch Monokulturen steht der Erhalt der biologischen Vielfalt im Vordergrund. Statt Pestiziden und Kunstdünger werden vor allem lokal angepasste Sorten verwendet. Statt als Einzelkämpfer versuchen sie nun als Gemeinschaft, den Anbau voranzutreiben und Überschüsse zu vermarkten. Statt ausschließlich Männern, die in der ländlich geprägten Region traditionell das Sagen haben, können sich nun auch Frauen und Jugendliche aktiv einbringen.
Von der Theorie zur Praxis
Wie die agrarökologische Wende gelingen kann, zeigt sich in Matiguas, einer besonders armen Landgemeinde vier bis sechs Autostunden nördlich der Hauptstadt Managua. Dort führt SWISSAID seit 2019 ein Projekt zur schrittweisen Einführung von Agroökologie und lokaler Saatgutförderung durch. Um die Kleinbauernfamilien bei der Umstellung auf ökologische Anbaumethoden zu unterstützen, erhalten sie neben intensiven Schulungen auch Zugang zu Materialien und Krediten. Im Sinne eines Train-the-Trainer-Ansatzes werden Bäuerinnen und Bauern dazu ausgebildet, ihr Wissen als Multiplikatoren von Dorf zu Dorf zu tragen und Tipps aus der Praxis weiterzugeben.
Zudem übernehmen die lokalen Gemeinschaften Mitverantwortung für das Projekt. Um die Abhängigkeit von industriellem Saatgut zu überwinden, werden kommunale Saatgutbanken mit angepassten, klimaresistenten Sorten auf- und ausgebaut. Hier kann SWISSAID auf langjährige Erfahrung zurückgreifen. Über 450 kommunale Saatgutbanken hat das Hilfswerk allein in Nicaragua bisher erfolgreich und nachhaltig aufgebaut. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte, wobei gezielt die Zusammenarbeit mit regionalen Kooperativen gesucht wird.
Die Ziele
350 besonders arme Kleinbauernfamilien mit rund 1’750 Personen profitieren direkt vom Projekt. Dies entspricht rund 40% der Bevölkerung. Die übrige Bevölkerung soll indirekt am Projekterfolg teilhaben. 80% der direkt begünstigten Familien erhalten Zugang zu mindestens zehn verschiedenen landwirtschaftlichen Produkten, die sie selbst anbauen. Dabei wenden sie mindestens acht verschiedene, klar definierte ökologische Anbaupraktiken an. Mindestens 75 Prozent der Familien steigern ihre Erträge aus der Bohnen-, Mais- und Kakaoproduktion signifikant und vermarkten die Überschüsse am Ende der Projektlaufzeit erfolgreich, um ihr Einkommen um mindestens 15 Prozent zu steigern. Um die Nachhaltigkeit des Projekts zu gewährleisten, werden fünf neue Saatgutzentren gebaut und fünf bestehende erweitert. Acht Gemeindezentren werden im Rahmen des Projekts gebaut und nehmen ihre Arbeit auf. Die Hälfte der kommunalen Organisationsräte wird mit Frauen besetzt, 30 Prozent der Führungspositionen mit Jugendlichen.
Die Ergebnisse
Dies ist nur ein Auszug aus den ehrgeizigen Projektzielen. Sie alle sollen letztlich dazu beitragen, die Ernährungssituation der Menschen nachhaltig zu verbessern. Um dieses übergeordnete Ziel zu messen, wendet die Allianz Sufosec die sogenannte FIES-Methode der Vereinten Nationen an, die anhand von Haushaltsbefragungen den Grad der Ernährungssicherheit in der Bevölkerung ermittelt.
In Matiguas brachte die FIES-Erhebung 2023 vielversprechende Ergebnisse. Im Vergleich zum Vorjahr sank der Grad der massiven Unterernährung in der Bevölkerung von 13% auf 9%. Der Anteil der Befragten, die in den letzten 12 Monaten vermehrt Hunger verspürten, weil keine Nahrungsmittel zur Verfügung standen, ging um sechs Prozent zurück. Auch der Anteil derer, die manchmal tagelang nichts zu essen hatten, konnte von 16% auf 11% gesenkt werden. «Früher hatten wir gar nichts», berichtet die Bäuerin Paula Zamora. Die 46-jährige Mutter von fünf Kindern ist mit ihrem Mann 2020 zum Projekt gestoßen. «Nachdem wir gesehen haben, wie sich die Gärten unserer Nachbarn entwickeln, wollten wir unbedingt auch dabei sein.» Heute bauen die Zamoras 15 verschiedene Sorten an: «Unsere Ernährung hat sich seither sehr verbessert, und mit den Überschüssen erwirtschaften wir zusätzliches Einkommen.»
Trotz der erfreulichen Zwischenergebnisse gibt es keinen Grund zum Durchatmen. «Wenn neun Prozent der Bevölkerung massiv unterernährt sind, ist das immer noch ein Prozent zu viel», stellt Martin Jovanov, Programmverantwortlicher für Nicaragua bei SWISSAID, klar. Doch um ein Ernährungssystem grundlegend zu verändern, braucht es Zeit und vieles mehr: Wissen, ein umfassendes Verständnis der natürlichen Kreisläufe, harte Arbeit, ein besseres Verständnis und eine intensivere Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene. Und die gemeinsame Vision einer Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt, im Einklang mit der Natur und ohne Hunger leben können und in der auch die junge Generation eine Zukunft hat.
Nicaragua
Einwohner*innen: 6.85 Mio.
Fläche: 130’373 km²
Projektinformationen
Partnerorganisation vor Ort: SWISSAID
Weitere Informationen
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