Wissenschaft ehupuguw 7. November 2023

Wissenschaft

Agrarökologie funktioniert

Prof. Dr. Johanna Jacobi von der ETH Zürich und Prof. em. Stephan Rist von der Uni Bern haben im ersten Ernährungsbericht eine wissenschaftliche Einbettung der ersten Resultate des Sufosec-Programms vorgenommen. Aus ihrer Sicht ist der Ansatz der Allianz erfolgversprechend: 1) nachhaltige Ernährungssysteme durch agrarökologische Praxis zu verbessern und 2) Gemeinschaften zu befähigen, die Ernährungssysteme, von denen sie abhängen, aktiver zu steuern. Der hier wiedergegebene Artikel findet sich im Original im Ernährungsbericht 2022.

Wissenschaftliche Einbettung der Ergebnisse des Sufosec-Berichts
Die Agrarökologie wird zunehmend als ein Ansatz gesehen, der Strategien und Technologien zur Bewältigung unserer konvergierenden sozioökologischen Krisen bietet. So beschreibt der IPCC-Bericht 2022 die Agrarökologie als eine Lösung, die sowohl zur Abschwächung des Klimawandels als auch zur Anpassung daran beitragen kann und die auf traditionellem Wissen basiert, das mehrere Herausforderungen gleichzeitig angeht, darunter die Krise der biologischen Vielfalt und die Ernährungsunsicherheit. Der Sufosec-Bericht präsentiert Ergebnisse aus 16 Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien. 14’000 ländliche Familien- und Gemeinschaftsbäuerinnen und Bauern, die Agrarökologie anwenden, wurden befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Agrarökologie nicht nur ein wissenschaftliches Konzept und eine wissenschaftliche Methode ist, sondern auch unter komplexen Feldbedingungen gut funktioniert: Die Studie hat gezeigt, dass agrarökologisch wirtschaftende Landwirt*innen ihre Produktion diversifizieren und dass sie dadurch Hunger und Unterernährung verringern können, selbst in Gebieten, in denen Hunger von erschreckender Normalität ist. Agrarökologie ist mehr als ein Rand- oder Nischenkonzept oder nur für wohlhabende Landwirt*innen machbar. Im Gegenteil, die agrarökologische Landwirtschaft kann Ressourcen erhalten, die biologische Vielfalt fördern, Einkommen stabilisieren und steigern, Kohlenstoff binden und gleichzeitig gesunde, nahrhafte und kulturell akzeptable Lebensmittel erzeugen. Ähnlich wie in anderen Sektoren ist der Übergang zu agrarökologischen Praktiken jedoch noch nicht sehr weit fortgeschritten. Technokratische, produktionistische und klassisch-ökonomische Paradigmen der ‹Grünen Revolution› bleiben vorherrschend, selbst in Zeiten, in denen die sozial-ökologischen Auswirkungen und Risiken agrarindustrieller Ernährungssysteme durch wissenschaftliche Erkenntnisse weithin bekannt sind.
Die Welt ernähren können

Die Debatten über die Zukunft unserer Ernährungssysteme kreisen immer noch um die Frage:
Ist es möglich, dass nachhaltige, ökologische Landwirtschaft, Agrarökologie oder andere alternative Praktiken ökologisch sinnvoller Landwirtschaft die Welt ernähren können? Diese Frage suggeriert fälschlicherweise, dass die vorherrschende agroindustrielle Landwirtschaft die Welt ernährt, während sie in Wirklichkeit hauptsächlich Treibstoff, Futtermittel und andere Produkte produziert, die keine Nahrungsmittel sind. Die vorherrschende Vorstellung, dass agrarindustrielle Lebensmittelsysteme die Welt ernähren und ökologische Probleme durch Intensivierung lösen, spiegelt nicht den aktuellen Stand der agrarökologischen und nachhaltigen Ernährungswissenschaften wider. Sie ist vielmehr Ausdruck von Machtasymmetrien bei der Gestaltung von Politik, technologischer Entwicklung und landabhängigen Investitionen.

Amartya Sen hat bereits vor 40 Jahren gezeigt, dass Hunger weniger ein Problem der landwirtschaftlichen Produktivität als der Ungleichheit und Armut ist. Der Großteil der weltweiten Nahrungsmittelversorgung wird von kleinbäuerlichen Familienbetrieben erzeugt. Während die industrielle Landwirtschaft die Zahl der bäuerlichen Familienbetriebe deutlich reduziert hat, ist der Rückgang der bäuerlichen Familienbetriebe unter anderem aufgrund der fortschreitenden Homogenisierung, Mechanisierung und großflächigen Landnutzung der Agrarlandschaft mit einer Umweltdegradation verbunden. Aus all diesen Gründen ist die Agrarökologie ein politischer Ansatz, der die Machtasymmetrien und die damit verbundenen Strukturen des Ernährungssystems in Frage stellt, die die agrarindustrielle Landwirtschaft aufrechterhalten, die für anonyme internationale, profitorientierte Märkte produziert, anstatt bäuerliche Landwirtschaft, Genossenschaften und Verbänden durch faire Preise und Vermarktungsbedingungen zu unterstützen. Ohne eine direktere Beteiligung der Familienbetriebe, handwerklichen Verarbeiterinnen und der gleichgesinnten Verbraucherinnen wird die dringende Forderung nach mehr Agrarökologie nicht erfüllt werden können. Darüber hinaus wird ohne eine signifikante Unterstützung des agrarökologischen Wandels der derzeitige Trend der zunehmenden Ernährungsunsicherheit, des Hungers und der wirtschaftlichen Ungleichheiten anhalten, und die finanziellen Ressourcen werden weiterhin an große Agrar- und Lebensmittelkonzerne wie Cargill fließen, die im Jahr 2021 ein Nettoeinkommen von über fünf Milliarden US-Dollar aus dem Getreidehandel erzielten. Im gleichen Jahr stieg die Zahl der Hungernden auf über 800 Millionen Menschen an. Daher fordern agrarökologische Bewegungen einen politischen Wandel von unten nach oben, damit das Recht auf Nahrung respektiert, geschützt und erfüllt wird.

«Die Ergebnisse zeigen, dass die Agrarökologie nicht nur ein wissenschaftliches Konzept und eine wissenschaftliche Methode ist, sondern auch unter komplexen Feldbedingungen gut funktioniert.»
«Paradigmen der ‹Grünen Revolution› bleiben vorherrschend, selbst in Zeiten, in denen die sozial-ökologischen Auswirkungen und Risiken agrarindustrieller Ernährungssysteme durch wissenschaftliche Erkenntnisse weithin bekannt sind.»
Agrarökologie funktioniert

Die beiden Hauptschwerpunkte der Sufosec-Allianz stimmen mit diesem Gesamtbild überein:
Es ist notwendig, 1) nachhaltige Ernährungssysteme durch agrarökologische Praxis zu verbessern und 2) Gemeinschaften zu befähigen, die Ernährungssysteme, von denen sie abhängen, aktiver zu steuern. Dieser Ansatz verbindet Elemente der produktiven Basis (die durch agrarökologische Technologien angesprochen werden) mit der breiteren sozio-politischen Basis (Befähigung der Individuen und Gemeinschaften) mit dem Thema der Ernährungssicherheit. Die in der Studie untersuchten Technologien stammen aus vier Bereichen der agrarökologischen Praxis: Reduktion der Inputs, Verbesserung der Biodiversität, Förderung der Bodengesundheit und Synergien mit der Tierhaltung. Die Studie zeigt – einmal mehr – dass die Agrarökologie in der Praxis funktioniert. Darüber hinaus zeigt die Studie auch, dass die Agrarökologie nicht nur die Böden und Kulturen verbessert, sondern auch die Ernährungssicherheit. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Fallstudien und konkreter Beispiele, die solche Vorteile in unterschiedlichen Kontexten und unter unterschiedlichen Bedingungen zeigen.

Konkret ergab die Studie der Allianz Sufosec, dass größere Haushalte und Haushalte, die nur von einer Frau geführt werden, mit größerer Wahrscheinlichkeit von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind. In Übereinstimmung mit der FAO deutet dies darauf hin, dass Hunger und Unterernährung weiblich und jung sind. Die Daten geben aber auch Anlass zur Hoffnung: Diejenigen Landwirt*innen, die agrarökologische Technologien zur Reduzierung von Betriebsmitteln, Bodengesundheit und Biodiversität anwandten, hatten ein geringeres Risiko, an Ernährungsunsicherheit zu leiden; außerdem zeigte sich, dass das Risiko, an Ernährungsunsicherheit zu leiden, umso geringer ist, je länger agrarökologische Praktiken angewandt werden. Besonders wirksam bei der Verringerung des Hungers waren der Einsatz von organischen Düngers, effiziente Bewässerung und Bodenschutzmethoden. Die Einbeziehung der Viehzucht in den Lebensunterhalt zeigte keine ähnlich positiven Auswirkungen. Dies ist angesichts der gegenteiligen Ergebnisse von 55 Fallstudien, die von Bezner Kerr et al. (2021) analysiert wurden, eher überraschend und erfordert daher weitere Untersuchungen. Die Studien stimmen jedoch überein, was die kumulative Wirkung agrarökologischer Praktiken angeht: Die Verringerung der Ernährungsunsicherheit war am stärksten, wenn mindestens drei Arten von Praktiken angewandt wurden.

Allerdings wurde in der vorliegenden Studie auch ein bekannter Effekt festgestellt: Wenn Familien unter schwerer Ernährungsunsicherheit litten (d.h. dem Haushalt gingen die Lebensmittel aus, der/die Befragte war hungrig, ass aber nicht, oder hatte einen ganzen Tag lang nichts gegessen), hatte die Agrarökologie nicht die gleichen positiven Auswirkungen. Dieses Ergebnis erinnert daran, dass die agrarökologische Umstellung nicht allein von gefährdeten Haushalten geschultert werden kann. Der Bedarf an Nothilfe geht einher mit dem Bedarf an aktiver Unterstützung bei der Überwindung schwerer Existenz- und Produktionskrisen, z.B. verursacht durch COVID-19, damit zusammenhängende politische Massnahmen, Unzulänglichkeiten in den Lieferketten, durch Spekulationen oder Kriege. Die Förderung agrarökologischer Praktiken vor Ort muss durch politische Massnahmen unterstützt werden, die die Gründe für die Vorherrschaft agrarindustrieller Ernährungssysteme ändern können. Laut IPES sind die wichtigsten Empfehlungen: 1) finanzielle Unterstützung und Schuldenerlass für gefährdete Länder; 2) Verhinderung von Spekulationen mit Nahrungsmitteln; 3) Unterstützung regionaler Getreidereserven und eines globalen Nothilfesystems; 4) Diversifizierung der Produktions- und Handelssysteme; 5) Aufbau von Resilienz und Abbau von Abhängigkeiten durch Agrarökologie. Priorität sollte die Umsetzung der Rechte von Kleinbauern und Familienbetrieben haben. Diese Rechte wurden von der Mehrheit der Nationen in der UNDROP-Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Bauern/Bäuerinnen und anderer in ländlichen Gebieten arbeitender Menschen 2018 festgelegt. Das bedeutet, dass die Agrarökologie nicht nur auf lokaler Ebene umgesetzt werden muss, sondern eine breite gesellschaftliche Neuausrichtung erfordert, die die bäuerliche Landwirtschaft mit ökologisch sinnvollen Methoden nach agrarökologischen Prinzipien unterstützt.

Resultate aus der Praxis
Der Beitrag der Allianz Sufosec – Lokale Ernährungssysteme und Agrarökologie
Das agrarökologische Transitionsmodell nach Gliessmann (2016) und der FAO (2018) beschreibt einen begleiteten, bewusst schrittweisen geplanten Übergang zu fairen und nachhaltigen Ernährungssystemen, der sich an agrarökologischen Grundprinzipien orientiert (Abbildungen 9a, 9b, 15). Die von Sufosec beobachteten agrarökologischen Methoden konzentrieren sich auf die Stufen 2 bis 3. Dies macht deutlich, dass weitere Fortschritte bei der Verbreitung agrarökologischer Praktiken und der Neugestaltung von Lebensgrundlagen stärker von der Stärkung der Verbindungen zwischen Produzenten, Händlernnen, Verarbeiterinnen, Einzelhändlerinnen und Verbrauchenden abhängen. Nur auf der Grundlage solcher Bottom-up-, deliberativer und assoziativer Lebensmittelnetzwerke ist ein demokratischer Übergang zu gerechten Ernährungssystemen möglich. Agrarökologische Transitionen sind tief verwurzelt in organischer Düngung, Agroforstwirtschaft, Zwischenfruchtanbau oder kontrollierter Weidehaltung, aber sie müssen über landwirtschaftliche Methoden hinausgehen. Vor dem Hintergrund der oben zusammengefassten agrarökologischen Transition sind die Bemühungen des Sufosec von großer Bedeutung: Die Resultate stammen aus der Praxis, nicht aus wissenschaftlichen oder politischen Modellen in verschiedenen Regionen. Die Daten belegen, dass die Agrarökologie in der Lage ist, in unterschiedlichen sozio-ökologischen Kontexten positive Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit und die Beteiligung von Bäuerinnen und -bauern an der Gestaltung von Ernährungssystemen gemäß ihrer eigenen Werte von Gerechtigkeit, Solidarität und deliberativer Demokratie zu leisten. Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass die enge Zusammenarbeit unabhängiger Bauern- und Bäuerinnen-Organisationen mit NGOs und lokalen Organisationen demokratisch kontrollierbarer Regierungen eine wichtige Rolle bei der Verknüpfung der fünf Ebenen des agrarökologischen Übergangs spielen kann, wie in Abbildung 15 dargestellt. Die Tatsache, dass die positiven Ergebnisse geografisch weit verbreitet, aber nicht sehr stark ausgeprägt sind, erinnert uns daran, dass diese Erfolge nicht wegen, sondern trotz der Forschungs- und Agrar- und Ernährungspolitik, die seit Jahrzehnten in die entgegengesetzte Richtung geht, zustande gekommen sind und dass die Überprüfung und Neuausrichtung auf agrarökologische Prinzipien eine dringende Aufgabe ist. Fragen der sozialen Ungleichheit und Gerechtigkeit sind Kernelemente der Agrarökologie. Bezner Kerr et al. (2022) stellten in ihrer Auswertung von 240 Studien zur Agrarökologie fest, dass es Belege für die Auswirkungen der Selbstorganisation auf die Autonomie gegenüber Firmen und Beratungsdiensten gibt, die nicht nachhaltige Anbaumethoden fördern. Die Anwendung agrarökologischer Methoden kann nachweislich die Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks und Stress erhöhen. Soziale Sicherheitsnetze in und um Gemeinschaften ergänzen strukturell vielfältige Landschaften, was verdeutlicht, warum agrarökologische Prinzipien sowohl ökologisch als auch sozial und wirtschaftlich ausgerichtet sind. Darüber hinaus braucht die agrarökologische Transformation die Unterstützung einer emanzipatorischen und transdisziplinären Wissenschaft, die auf verschiedenen Wissensformen aufbaut, sowie eine soziale Bewegung, die sich für einen politischen Wandel einsetzt, um die Menschenrechte und insbesondere das Recht auf Nahrung zu respektieren. Schlussendlich muss eine Umstellung der Anbausysteme auch den Umbau des globalen Ernährungssystems auf der Grundlage der Prinzipien der Ernährungsdemokratie und -gerechtigkeit umfassen. Dies bedeutet auch, dass ein übermäßiger Konsum (einschließlich Werbung), oligopolistische Marktstrukturen und öffentlich-private Forschungs- und Technologiepartnerschaften thematisiert werden müssen, da sie eine echte und umfassende Mitbestimmung der Betroffenen untergraben.
«Die Förderung agrarökologischer Praktiken vor Ort muss durch politische Massnahmen unterstützt werden, die die Gründe für die Vorherrschaft agrarindustrieller Ernährungssysteme ändern können.»
«Agrarökologie muss nicht nur auf der lokalen Ebene umgesetzt werden, sondern sie erfordert eine breite gesellschaftliche Neuausrichtung.»
«Die Erfolge von Sufosec sind nicht wegen, sondern trotz der herrschenden Forschungs-, Agrar- und Ernährungspolitik zustande gekommen.»
«Schlussendlich muss eine Umstellung der Anbausysteme auch den Umbau des globalen Ernährungssystems auf der Grundlage der Prinzipien der Ernährungsdemokratie und -gerechtigkeit umfassen.»